Sonntag, 18. September 2016

Geschichtsstunden

Seit etwa einem halben Jahr schreibe ich für die Stadtzeitung. Das ist jetzt nichts weltbewegendes und den Pulitzerpreis gibt es eher nicht dafür. Dafür schreibe ich beispielsweise über 90. Geburtstage und Diamantene Hochzeiten. Für die Jubilare gibt es Blumen und Urkunden und einen Besuch des Bürgermeisters oder eines seiner Stellvertreter. Die beiden letzten Male war das Eugen Sänger. Manchmal werden diese Termine recht kurzfristig kommuniziert, aber für uns Nur-Hausfrauen ist das eigentlich kein Problem. Da sind wir ja so was von flexibel.

Ich genieße diese Termine. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn man wird jedes Mal aufs beste versorgt mit Schnittchen, Kuchen, Kaffee und Sekt. Pech für Mäc, denn sie muss dann auf ihr Mittagessen verzichten. Gespannt bin ich immer wieder aufs Neue, wohin mich die einzelnen Jubiläen führen. Manche Namen kenne ich vom Hören-Sagen, manche sind mir persönlich bekannt und von manchen erfahre ich, dass sie jemanden kennen, den ich kenne. Dann muss ich erklären, wo ich denn hingehöre (Lais - nein nicht aus Grißheim, Wehrle - Richtberg - ah ja, denn Philip hab ich gekannt. Krass). Mal sitzen wir im Wohnzimmer mit der Familie, mal versammelt sich alles was Beine hat in der Küche - ein Stuhl hat immer noch Platz wenn sich zur Nachbarschaft noch Vereinsvertreter gesellen.

Lustig geht es allemal zu. Wenn zum Beispiel ein Ehejubilar meint, statt einer Urkunde hätte er wohl eher eine Tapferkeitsmedaille verdient. Schreiben kann ich das leider nicht.

Wer auf 90 gelebte Jahre zurückblicken kann (und darf) der hat allerhand zu erzählen. Und unweigerlich kommt die Sprache auf den 2. Weltkrieg. Die Schrecken einer Zeit, in der man ihnen die Kindheit und Jugend gestohlen hat. Missbraucht für den Größenwahn. Das Trauma dieses Krieges hat diese Generation geprägt. Die Erinnerungen haben sich versteck. Verblasst sind sie nicht. Sie sind jederzeit wieder abrufbar. 

Sie erzählen von den Entbehrungen der Nachkriegszeit, dem Wiederaufbau und dem Versuch, die Schrecken hinter sich zu lassen. Was nicht immer gelungen ist. Es gab weder Unterstützung bei Posttraumatischer Belastungsstörung noch psychologische Betreuung für vergewaltigte Frauen und Mädchen. 

Ich schrumpfe innerlich auf stecknadelkopfgröße zusammen vor Demut. Meistens vergesse ich mitzuschreiben und wenn ich wieder zu Hause bin fällt mir auf, dass ich nicht mehr weiß, aus wie vielen Kindern, Enkel und Urenkeln denn jetzt die Familie genau besteht. Das steht ja sonst immer in den Artikeln über Jubilare. Aber eigentlich ist das nicht so wichtig, finde ich.

Noch leben diese Zeitzeugen und ich fände es schön, wenn Schulen die Chance ergreifen würden, die Geschichte dieser unsägliche Zeit nicht abstrakt zu vermitteln, sondern von Menschen, die dabei waren. Ich bin sicher, dass diese Methode der Wissensvermittlung wesentlich effektiver wäre. In diesen Tagen scheint es mir sowieso angeraten zu sein, die Folgen rechten Gedankengutes etwas deutlicher zu erklären.
Es soll mir ja keiner erzählen, diese Menschen seien zu alt und gebrechlich, um davon berichten zu können. Diese Zeit hat sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt, da ist nichts verloren gegangen. Und, wie gesagt, noch gibt es sie, die 90-jährigen mit beneidenswert guter geistiger und körperlichen Gesundheit.

Ich treffe nicht auf verbitterte Menschen. Im Gegenteil. Ich treffe auf heitere, gelassene Menschen, die mit sich und ihrer Vergangenheit Frieden geschlossen haben. Die trotzdem dankbar sind. 

Für mich sind diese Besuche ein Geschenk. Nicht nur wegen Schnittchen und Sekt.










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